Der Geschichtenstuhl

 

 

Wenn wir Nicht-Akrobaten an der Haltestelle auf den Bus warten, kramen wir ein Buch oder eine Zeitung aus der Tasche und lesen. Oder die Rosinenschnecke aus der Bäckertüte und mampfen sie rein.

Claudia Lindt

Handstand statt Parkbank

Wenn eine Bank zum Verschnaufen einlädt, nehmen wir gerne an. Mit den Kindern oder Enkeln auf dem Spielplatz angekommen, hocken wir auf der nächstbesten Sitzgelegenheit und lächeln gönnerhaft, wenn die Kleinen das Klettergerüst für sich entdecken.

 

Wir? Claudia Lindt nicht.

 

Claudia nutzt die Pause beim Warten auf den Bus, um mal eben in den Spagat zu gehen. Oder fix ein Rad zu schlagen. Handstand geht auch. „Gemeinsam mit meiner Schwester habe ich so schon fast Autounfälle verursacht, weil die Vorbeifahrenden ihren Augen nicht trauten und genau hinschauten, statt auf die Straße. Daran dachten wir nie. Wir machen einfach nur gerne diese Übungen.“

Auch auf dem Spielplatz, wo sich normalerweise die Kids austoben und ausprobieren, sind Claudia und ihre Schwester als Erwachsene und Mutter meist die Aktiven. Und der Nachwuchs staunt nicht schlecht. „Meine Kinder hoffen dann allerdings eher, dass die zwei durchgeknallten Frauen keiner mit ihnen in Verbindung bringt“, schmunzelt die Chairlibristik- und Podestakrobatikexpertin.

 

Chairlibristik?? Was ist das denn?

 

Gute Frage. Richtige Frage. Diesen Bereich der Artistik, besser gesagt das Wort, hat Claudia Lindt erfunden. Sie turnt, salopp gesagt, auf einem Stuhl herum. „Schon immer mal hat jemand Akrobatik auf einem Stuhl gemacht“, erläutert die bewegliche Neusserin, „für mich ist das ideal, auf dem Boden wird man nicht so gut gesehen.“

Claudia erzählt Geschichten auf dem Stuhl, Foto: Willi Frank

Claudia erzählt Geschichten auf dem Stuhl, Foto: Willi Frank

Jedes Möbelstück erfüllt den Zweck indes nicht, erzählt sie mir, „der Stuhl muss stabil sein, der Kipp-Punkt muss stimmen“. Fündig wurde die Artistin vorerst tatsächlich bei IKEA. Und natürlich, wie sollte es anders sein, Aufsehen erregend: „Ich musste testen, Handstand auf den Stühlen und so weiter. Die anderen Käufer wunderten sich leicht verwirrt.“

Claudia wurde fündig, wenn auch nur zeitweise, ein Arbeitsgerät mit optimaleren Kippeigenschaften musste her. „Den Stuhl, den ich nun seit fünf Jahren nutze, fand ich per Zufall in einem Polstermöbelgeschäft“, erinnert sie sich.

Was für die Chairlibristin der wichtigste Gegenstand für die Ausübung ihrer Tätigkeit ist, das nutzen andere gerne mal eben, um darauf zu steigen und eine Glühbirne auszuwechseln, sich daraufzusetzen oder als Kleiderständer. „Ich muss auf meinen Stuhl einen Zettel legen“, hat Claudia eine einfache Lösung gefunden, um das Möbel nicht erst von Jacken, Ruhesuchenden oder Stiefelabdrücken befreien zu müssen.“

 

Eine Rose und ein Weinglas? Eine Geschichte.

 

Ihr anderes Gerät ist ein Podest. In der Ursprungsform einem Siegerpodest bei sportlichen Wettkämpfen sehr ähnlich. „Auch da kommt es durch die gegebene Höhe darauf an, besser gesehen zu werden. Es muss stabil sein und leicht auseinander- und wieder zusammen zu bauen“, erläutert die Erfinderin ihrer Plattform, „mittlerweile mit einer vierten Podestfläche. Ausgedacht habe ich mir das, gebaut hat es mein Mann.“

Claudia Lindt

Claudia auf ihrem Podest

Hauptsächlich, wenn Claudia Lindt mit ihrem Stuhl auf die Bühne schreitet, hat sie mehr als nur das Gerät, ihr artistisches Talent und Können sowie einige Handstände und Balanceakte im Gepäck. Sie bringt eine Rose mit. Oder ein Weinglas. „Und vor allem eine Geschichte“, beschreibt sie ihre Auftritte, „ich erzähle beispielsweise von einem Blind Date, das nicht auftaucht – kombiniert mit Akrobatik, rund um den und auf dem Stuhl.“ Diese um die zehn Minuten Darbietung, begleitet von Musik, sorgt deshalb im Publikum außer für respektvollen, anerkennenden Applaus zudem oft für berührende Momente unter den Zuschauern.

 

Der Wind? Ein Zirkuszelt? Zufall.

 

Wenngleich die in Düsseldorf geborene und aufgewachsene Claudia ab ihrem dritten Lebensjahr munter am Turnen war, ebnete ihr den Weg zu dem, was sie jetzt macht, Gevatter Zufall. Der blies kräftig gegen ein Zirkuszelt und das flog weg. Die Zirkusleute kamen zeitweise auf einer Wiese unter, Claudia kam, weil sie durch den Geburtstag ihres Onkels in der Nähe war, vorbei – und die Dinge nahmen ihren Lauf.

„Ich spielte mit den Kindern dort, zeigte ihnen turnerische Elemente, sie zeigten mir etwas… irgendwann zog ich mit durch die Lande“, blickt die junge Frau zurück in die Teeniezeit, „ich tanzte auf dem Seil, was mir mit der Schwebebalkenvergangenheit nicht schwer viel, oder voltigierte (auf dem Pferd).“

Danach, an der „Ballettschule und Schule für Artistik“ in Berlin, lernte Claudia Lindt – wie da üblich – erst mal alles, um sich dann auf Luftakrobatik (Trapez) und Equilibristik (Die artistische Kunst des Balancierens) zu spezialisieren. Zur Erweiterung ihres Spektrums und der Palette ihres Könnens nahm die Artistin, so oft die Zeit es erlaubte, Schauspielunterricht. „Ich möchte mich besser mit dem Körper ausdrücken können, Shows im darstellenden Bereich anbieten“, so die Begründung.

 

Ein Traum? Eine Artistenschule.

 

Claudia Lindt, Spagat

Für Claudia normal: der Spagat

Am Schauspiel reizt sie, „was ganz anderes, jemand anders, zu sein. Ich möchte menschliche Geschichten und Schicksale erzählen“. So nimmt es, die gesamte Gemengelage betrachtet, nicht wunder, dass Claudia davon träumt, mal eine Artisten- beziehungsweise Zirkusschule zu eröffnen, an der Musik, Schauspiel, Akrobatik und Tanz zu bühnenreifen Shows vereint werden. „Im Stile des ‚Nouveau Cirque'“, fügt sie hinzu.

Im Weitergeben ihres Könnens an andere hat die junge Frau mittlerweile Routine. „Seit meinem zwölften Lebensjahr war ich auch Trainerin“, sagt sie, „das ist im Verein so üblich.“ Zudem gibt sie seit einigen Jahren und aktuell Workshops: „Meine Trainertätigkeit bezieht sich genauso auf gemeinnützige Vereine wie auch auf andere Organisationen und Firmen oder Privatpersonen.“ Darüber hinaus arbeitet Claudia als Choreografin.

 

Handstand? Fallrückzieher? Faszinierend.

 

Als ich mich erkundige, was die Faszination an Akrobatik für sie ist, was sie immer und immer wieder antreibt, täglich mehrere Stunden zu trainieren, oft öffentlich aufzutreten und dann auch noch auf Spielplätzen, an Bushaltestellen und auf Mauern am Straßenrand herumzuturnen, fragt Claudia gegen: „Hast du mal einen Handstand gemacht?“ Ich verstehe nicht gleich und antworte: „Ja, im Sportunterricht in der Schule. Aber oben gehalten hatte ich mich nie.“

Claudia Lindt

Claudia Lindt

Wenn sie mich gefragt hätte, ob ich mal einen Fallrückzieher gemacht habe, hätte ich gleich kapiert. „Es ist der Kick, der Adrenalinschub“, fängt sie an zu Schwärmen und hört nicht wieder auf, „durch die Luft fliegen, beinahe schwerelos, vielleicht mit dem Knie an der Nase, auf dem Kopf stehen und die Balance halten…“ Das verstehe ich. Wie beim Fallrückzieher.

 

Muskeln? Angst? Technik.

 

Wenngleich die Akrobatin öfter mal von verdutzten Zuschauerinnen oder Zuschauern ihrer Shows gefragt wird, ob viel Muskelkraft zu dem gehöre, was sie da anbietet, benennt sie als den Schlüssen zum Zauber eher die richtige Technik, das Finden des Gleichgewichtes. Claudia plaudert in dem Zusammenhang von Begegnungen mit menschlich-männlichen Kraftpaketen im Fitnessstudio, die ebenfalls erstaunt über die vermeintliche Körperkraft der so gar nicht muskelbepackten Frau Wettbewerbe anbieten und dann ganz schnell verschwinden, wenn die Artistin die Wettkampfdisziplinen vorschlägt und vormacht.

Furcht, sich dementsprechend zu messen, hat Claudia also nicht. Und apropos Furcht. „Angst ist in der Akrobatik ein schlechter Berater“, spricht sie gelassen aus, was dem Außenstehenden schwierig erscheint, „mit übertriebener Vorsicht passiert sogar mehr im Endeffekt. Es kommt dann, mit der Angst im Nacken, zu unkontrollierten Bewegungen.“

 

Claudia Lindt

Claudia Lindt

Zerstören? Nö.

 

Auch wenn die Neusserin von Stuhl oder Podest herunter steigt, wenn sie nicht an Seilen in luftiger Höhe Kunststücke vorführt; wenn sie stattdessen über das Leben im Allgemeinen nachdenkt und dementsprechend handelt, hält sie die Balance. „Ich esse nicht nur (weitestgehend) vegan, ich versuche auch vegan zu leben“, erklärt sie und liefert den Grund: „Die Erde ist genug zerstört, wir müssen nicht noch mehr kaputt machen! Und ich komme sehr gut klar ohne tierische Produkte.“

JJ

Weitere Informationen: Claudias Webseite

Foto Startseite: privat

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