Von Goethes Gretchen und tränennassen Wangen

 

Sie spielt das Gretchen in Goethes Faust, schaut dabei in Gesichter und zaubert Tränen auf Wangen. Sie möchte mal die Julia verkörpern und später das Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd. Aktuell sucht sie in fünf Schweizer Kantonen Walter. Einen Fernseher hat Jessica Matzig nicht und was sie gar nicht reizt, ist die Bachelorette zu geben oder in Promi Kochsendungen umher zu turnen. Schauspiel in New York studieren ist schon eher ihr Ding.

Foto von Diana Kottmann

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„Eine Welt, in der alles erlaubt und nichts tabu ist“

 

JJ: Jessica, durch deine Heimat, die Schweiz, bin ich Richtung Italien mal durchgefahren. Ich sah eine wunderschöne Landschaft und zahlte für den Imbiss eine astronomische Summe. Dann fallen mir noch Uhren ein, Schokolade, Bürgerbefragungen, Neutralität. Was ist die Schweiz für dich, was macht ihren Charme aus?

Jessica Matzig: Die Schweiz bedeutet Heimat. Sie bedeutet Familie, Bildung, Sauberkeit und wunderschöne Landschaften. Sie bedeutet, dass ich und mein kleiner Bruder das Privileg haben, studieren zu können, obwohl wir vor ein paar Jahren unseren Papa verloren haben und es meiner Familie seither finanziell (-gemessen an einem schweizerischen Standard, wohlverstanden-) nicht besonders gut geht.

Foto von Diana Kottmann

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Also solide, soziale Sicherheitsnetze, generell Sicherheit. Ich empfinde eine unglaubliche Dankbarkeit, dass ich hier leben und „gedeihen“ darf. Und so sehr mich auch das Fernweh dann und wann packt… Ich werde immer wieder mit Freude und Sehnsucht im Herzen in die Schweiz zurückkehren.

JJ: Du hast Psychologie, Erziehungswissenschaft und Gymnasialpädagogik an der Universität Zürich studiert. Hast du auch in einem relevanten Job gearbeitet oder planst es?

Jessica Matzig: Ich arbeitete seit Beginn meines Studiums als Schauspielerin. Ich habe in den letzten Jahren aber, wenn ich die Sicherheit eines regelmäßigen Einkommens brauchte, auch als Lehrerin oder in anderen Berufen gearbeitet. Auch in einer sozialen Institution für Jugendliche war ich tätig. Parallel zum Master in Psychologie habe ich mich für das Höhere Lehramt eingeschrieben, habe mich also auch zur Gymnasiallehrperson für Psychologie und Pädagogik ausbilden lassen.

Mein Fokus liegt zurzeit auf der Schauspielerei, ich werde aber ganz bestimmt zu diesen Dingen zurückkehren. Kaum etwas fasziniert mich im gleichen Maße wie die Psychologie. Und kaum etwas erfüllt mich mehr als die Weitergabe von Wissen und die Möglichkeit, jemandem etwas mitzugeben auf ihrem/seinem Lebensweg.

JJ: Ist ein Psychologiestudium sowas – im weitesten Sinne – wie ein Schauspielstudium, weil du lernst, dich in Menschen hineinzuversetzen, weil du in die Tiefen kommst? (oder spinne ich mit der Frage?)

Jessica Matzig: Hihi, du spinnst nicht mit der Frage. Allerdings ist es nicht so, dass du im Psychologiestudium automatisch lernst, dich in Menschen hineinzuversetzen. Du lernst zwar eine Menge über Menschen. Du lernst (neben vielem anderen) beispielsweise wie Menschen in ihren Grundzügen funktionieren, bzw. welche Mechanismen beispielsweise bestimmte Verhaltensweisen erklären können. Du lernst Dinge über Denken, Erleben und Verhalten von Menschen.

Empathie ist meiner Meinung nach jedoch nicht etwas, was man lernen kann. Beides sollte jedoch unbedingt sowohl dem Schauspieler als auch dem Psychologen (vor allem wenn er in klinischer/therapeutischer Richtung vertieft und auch in diesem Bereich arbeiten möchte) gegeben sein.

JJ: Wie kamst du zum Schauspiel?

Jessica Matzig: Ich denke, ich war schon immer eine Geschichtenerzählerin. Ich habe sehr früh angefangen zu reden und mit vier dann zu lesen. Als großer Bücherwurm habe ich schnell angefangen, mir eigene Geschichten zu machen und aufzuschreiben. Einige meiner Klassenkameraden wurden später dazu genötigt, meine Geschichten zu illustrieren.  Ich wollte ein Buch schreiben und sie sollten mir die Bilder dazu liefern. Ebenfalls in der Primarschule habe ich dann gemerkt, dass man Geschichten auch ganz gut mit dem Körper bzw. der Stimme erzählen kann. Und als wir dann im Religionsunterricht die Weihnachtsgeschichte spielten und ich als Weihnachtsengel gleichzeitig noch die Erzählerin war, war das so ein Schlüsselmoment für mich.

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In der 5. und 6. Klasse hatte ich mit Daniel Hosch dann einen tollen Lehrer, der jedes Jahr mit seiner Klasse ein Theater aufgeführt hat. Er ließ mich/uns jeweils in der Pause im Klassenzimmer Sketche für meine Mitschüler/innen einstudieren, die wir dann vorgeführt haben. Hier hab ich auch oft Regie gemacht. Danach gab es für mich keine Möglichkeit mehr zu spielen, weil es bei uns in der Region einfach nichts gab. Irgendwann in der Oberstufe habe ich dann allerdings per Zufall vom „jungen Theater Liechtenstein“ erfahren und konnte meine Eltern überreden, dass ich da mitmachen darf.

Da hab ich dann einen meiner besten Freunde, den Schauspieler/Regisseur und Schauspielpädagogen Peter Beck kennengelernt. Beide waren wir damals unsichere, sensible Teenager, die einfach gerne in die Haut von jemand anderem schlüpften. Und Peter war es dann auch, der ein paar Jahre später meinem Leben diese schicksalshafte Fügung gab, indem er mich anrief und sagte: „Jessy, wir brauchen für eine Produktion noch eine junge Frau… Komm doch vorsprechen.“ Der Rest ist Geschichte. Seither spiele ich eigentlich ständig.

JJ: Was ist Theater für dich, was Film und Fernsehen?

Jessica Matzig: Theater ist für mich Freiheit. Es ist Furchtlosigkeit und Ausdrucksmöglichkeit. Es ist Liebe und Hass. Es ist Emotion. Es ist eine Welt, in der alles erlaubt und nichts tabu ist.

Film und Fernsehen sind für mich wie das Theater Formate, um Geschichten zu erzählen und zusätzlich eine Möglichkeit, mehr Menschen auf einmal mit Inhalten zu erreichen. Allerdings ist es schon etwas anderes, eine Geschichte auf der Bühne zu erzählen oder vor einer Kamera, wo die Geschichte meist sehr zerstückelt wird und es (zumindest für mich) im Moment noch mehr Konzentration erfordert, immer innerhalb von Sekunden im Moment bzw. in der Szene zu sein.

JJ: Egal, ob du auf der Bühne stehst oder vor einer Kamera, was fühlst du genau in dem Moment (Vorstellung läuft/Kamera läuft)?

Foto von Diana Kottmann

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Jessica Matzig: Wenn alles gut läuft, fühle ich, was auch immer meine Figur gerade fühlt. Daneben bleibt kein Platz für meine eigene Gefühlswelt, weil Jessy in dem Moment nicht da ist. Bei Premieren bin ich oft sehr aufgeregt, was mich insofern behindert, als dass ich mir meiner selbst zu bewusst bin und die Figur unfreiwillig in den Hintergrund rückt. Das legt sich aber glücklicherweise meistens innerhalb der ersten Sätze.

JJ: Was fühlst du danach?

Jessica Matzig: Nach Premieren: Erleichterung. Wenn es gut gelaufen ist Freude, Euphorie. Wenn es nicht so optimal gelaufen ist, ärgere ich mich natürlich.

JJ: Spielst du in erster Linie für dich, oder sagen wir mal, aus dir heraus, oder auch mit Gedanken an Zuschauer und Publikum?

Jessica Matzig: Ich glaube, ich spiele für die Figur, für die Geschichte. Ich empfinde es als großes Privileg, meinen Körper und meine Stimme einer Figur zu leihen und damit ihre Geschichte erzählen zu dürfen.

JJ: Wie beeinflussen dich – direkt im Spiel – die Schauspielkollegen, der Regisseur, das Publikum?

Jessica Matzig: Gute Spielpartner sind wichtig, um dich selbst auf ein höheres Spielniveau zu bringen. Wenn ich mit jemandem spiele, der mir bzw. meiner Figur offensichtlich nicht zuhört, mich nicht herausfordert und „für sich selbst spielt“, dann sinkt nicht nur meine Leistung, sondern auch meine Motivation. Die Regie ist natürlich das A & O. Ich muss Vertrauen zur und in Regie haben, sonst fühle ich mich verunsichert und das zeigt sich im schlimmsten Fall im Spiel. Das Publikum blende ich bei TV und Filmprojekten erstmal aus. Bei Theaterprojekten sieht das etwas anders aus. Dort spürt man die Energie aus dem Publikum ja unmittelbar.

Das gibt mir oft einen zusätzlichen Kick. Einen Schlüsselmoment hatte ich letztes Jahr, als ich in Liechtenstein das Gretchen in Goethes Faust I. gespielt habe. Es gibt diese Szene am Endes des Stückes im Verließ, in der Faust auftaucht, um Gretchen, die den Verstand verloren hat, zu retten. Als Gretchen ihn endlich erkennt, küsst sie ihn und schreckt dann zurück: „O Weh, deine Lippen sind kalt… sind stumm… Wo ist dein Lieben geblieben? Wer brachte mich drum…?“ Der Regisseur hat das ganze Stück als Prozessionstheater inszeniert, alle Zuschauer sind also von Raum zu Raum gepilgert und diese letzte Szene wurde in einem uralten Steinkeller gespielt, das Verlies in der Mitte, die Zuschauer um uns herum.

Foto von Diana Kottmann

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Der Regisseur gab mir für den verzweifelten Ausruf „Wer brachte mich drum?“ die Anweisung, als einziges Mal die vierte Wand zu durchbrechen und beim Wegdrehen von Faust jeder Frau in meiner Blickrichtung ganz kurz in die Augen zu schauen. Wenn du in einem solchen Moment siehst, wie Zuschauer mit tränennassen Wangen dastehen, kannst du dich gar nicht gegen den Emotionssturm wehren, den dies in dir auslöst… mir hat es jedes einzelne Mal die Nackenhärchen aufgestellt und ich habe es GELIEBT, diese Szene zu spielen, auch wenn sie emotional sehr anstrengend war.

JJ: Ist tatsächlich jede Vorstellung anders?

Jessica Matzig: Klar, keine Vorstellung ist 100% wie eine andere. Aber zugegeben, bei 50 Vorstellungen an verschiedenen Orten ist es später manchmal schwierig, sich zu erinnern wie die Vorstellung in XY und wie die in YZ war. Außer natürlich, es passieren spezielle Dinge, einmal ist uns beispielsweise während einer Vorstellung in Bregenz (Österreich) das ganze Geschirr in der Bühnenküche auf den Bühnenboden gefallen. Und zwar direkt nach Öffnen des Vorhangs und Sekunden bevor ich barfuß die Szene eröffnen musste… Die Zuschauer haben gelacht, weil sie dachten, es gehöre zum Stück… ich habe derweil Blut geschwitzt.

JJ: Erzähle mal bitte ein bisschen über „Himmelfahrtskommando“, aus deiner ganz persönlichen Sicht.

Jessica Matzig: „Himmelfahrtskommando“ war eine emotionale Berg- und Talfahrt. Hat mir aber möglicherweise das Leben gerettet. Und wenn nicht das Leben, dann zumindest den Verstand. „Himmelfahrtskommando“ war mein erster Kinofilm und das erste Mal, dass ich vor einer Kamera gestanden bin. Ich wurde für eine Hauptrolle gecastet und zwar neben drei großen, renommierten Schweizer Schauspielern und Kindheitshelden von mir. Nur schon dieser Umstand machte mich, die ich zu diesem Zeitpunkt noch nie vor der Kamera gestanden hatte und mich eigentlich nur für eine Nebenrolle als beste Freundin einer Hauptfigur beworben hatte, unglaublich nervös. Ich freute mich aber wahnsinnig auf die Herausforderung und über das Vertrauen, das Regisseur Dennis Ledergerber und sein ganzes Team in mich hatten.

Foto von Diana Kottmann

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Dann habe ich jedoch unmittelbar vor Drehbeginn meinen Papa verloren und war so durch den Wind, dass ich dachte, dass ich absolut keine Chance habe, das Ganze wie geplant durchzuziehen. Ich habe dann jedoch so viel Unterstützung von meiner Familie, meinem damaligen Freund, der Regie sowie Crew und Cast erfahren, dass es irgendwie doch ging. Und im Nachhinein betrachtet hat mich diese Chance, in dieser emotional wahnsinnig schwierigen Zeit für ein paar Wochen in eine andere Rolle zu schlüpfen, vielleicht wirklich gerettet. Ich bin immer noch unglaublich dankbar dafür.

JJ: Welche Rolle spielt für dich das Bekannt sein als Triebfeder?

Jessica Matzig: Keine. Obwohl sicherlich viele das Gegenteil denken und davon überzeugt sind, dass Schauspieler „Rampensäue“ sind, die gerne permanent im Rampenlicht stehen möchten. Aber das ist Quatsch. Ich habe schon viele lustige Anfragen für TV-Formate bekommen, z.B. für die TV-Sendung Bachelorette. Oder für irgendwelche Promi-Kochsendungen. Solche Dinge haben mich jedoch nie interessiert. Ich will Kunst machen und zwar weil  es einem tiefen inneren Drang entspricht, ich es also einfach machen muss, weil ich sonst unglücklich bin… Das ist die Triebfeder. Und nicht ob ich beim Einkaufen erkannt werde oder nicht.

Leider scheinen sich allerdings – zumindest in der Schweiz – viel weniger Leute für Goethe als für die Bachelorette zu interessieren. Das mit der Boulevard-Presse ist auch so eine Sache. Natürlich ist es immer eine Gratwanderung. Wie viel gebe ich von mir preis? Zu welchen Teilen „verkaufe“ ich mich? Wenn über mich geschrieben wird, bringt mir das ja einerseits auch was und ich bekomme eventuell neue Angebote. Wenn allerdings nur in irgendeinem Zusammenhang (der nichts mit meinem Spiel zu tun hat) über mich geschrieben wird und dazu am besten noch ein leichtbekleidetes Foto von mir abgedruckt wird bzw. ich danach gefragt werde, verstehe ich das nicht. Und zudem macht es mich irgendwie sauer. Ich glaube nicht, dass männliche Schauspieler mit solchen Problemen konfrontiert sind. Oder zumindest nicht im gleichen Ausmaß.

JJ: Hast du eine Traumrolle?

Jessica Matzig: Es gäbe noch so viele tolle Rollen zu spielen. Hier alle zu nennen würde den Rahmen sprengen. Aber Julia steht ziemlich weit oben auf der „to-do“-Liste. Ich hoffe, dass ich die mal noch spielen darf.

Außerdem würde ich gerne mal in einem coolen Martial-Arts-Film mitspielen. Wenn ich älter bin, würde ich zudem gerne das Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd aus Dürrenmatts Physikern geben.
Generell mag ich komplexe Rollen mit Tiefgang. Keine oberflächlichen, einfach gestrickten Figuren. Ähnlich geht es mir übrigens mit den Menschen, mit denen ich mich gerne umgebe.

JJ: Welche Schauspielerin, welchen Schauspieler siehst du gerne?

Foto von Diana Kottmann

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Jessica Matzig: Ehrlich gesagt habe ich nicht mal einen Fernseher. Um selber Filme zu schauen, habe ich irgendwie nicht so viel Zeit. Ich habe mir aber vorgenommen, mehr gute Filme mit guten Schauspielern zu schauen. Ich mag Meryl Streep und Cate Blanchett.

JJ: Was liegt schauspielerisch (oder sonst) demnächst an?

Jessica Matzig: Zur Zeit spiele ich zusammen mit einem tollen Ensemble die Komödie „Wo ist Walter?“ von Simon Keller. Wir touren damit bis Ende Oktober durch fünf Schweizer Kantone. Danach werde ich mich, wie es aussieht, leider für ein paar schmerzhafte Monate von der Schauspielerei abwenden und eine gut- bzw. eine regelmäßig bezahlte Festanstellung suchen. Dies deshalb, weil ich mich dazu entschieden habe, für ein Jahr nach New York zu ziehen, um dort noch ein Jahr Schauspiel zu studieren, was wohl nicht ganz billig wird. Deshalb muss ich schauen, dass ich etwas Geld zur Seite legen kann. Trotzdem: Mich ein Jahr lang mal ausschließlich auf meine künstlerische Weiterentwicklung zu konzentrieren, ganz ohne Ablenkung und 14 andere Sachen nebenher (wie bisher), das reizt mich unglaublich. Ich weiß ehrlich gesagt nicht einmal, ob ich als das kann. Aber ich habe große Lust, es rauszufinden!

JJ: Danke.

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